Blind vor (Sommer-)Liebe

Alexanders Freund kam jetzt aus dem Segel-Urlaub. Aber während Alexander ihn sah, konnte der Freund ihn nur halb sehen, denn dieser Freund trug eine Augenbinde. Wie ein Pirat sah er aus, was mit der Segelleidenschaft dieses Freundes zu erklären war. Und viel schüchterner als man sich Piraten landläufig und seeläufig vorstellt, reagierte dieser Freund, als Alexander nach dem Hintergrund für seine Augenverletzung forschte.  „Och", sagte der Freund“, ein kleiner Riss auf der Hornhaut." „Ochs" dieser Art sind für Alexander verdächtig. Er bemäntelte seine wachsende Neugier mit Mitgefühl und hakte bedauernd nach: „Segel im Sturm ins Auge?" Aber dies war's natürlich nicht. Alexanders Freund - nennen wir ihn aus Datenschutzgründen Hermann - war Wahrheitsfanatiker und deshalb log er nicht, sondern rückte heraus: „Liebesfolge", knurrte der Freund erst, dann wurde er erklärender. „Andere tragen als Folgen ihres Liebeslebens Bissspuren am Hals und ich habe eben einen Riss auf der Hornhaut..." „Was?" staunte Alexander und dachte sogleich an wilden Liebeskampf. Und er insistierte bei diesem Hermann, hieß er, hatten wir ja gesagt bis er alles wusste: Das Paar hatte im Verlauf der Ferientage die Stärke seiner Sehnsucht nach körperlicher Liebe ebenso total unterschätzt wie die Gelegenheit dazu überschätzt. Nirgendwo war Platz, Zeit für das, was für Liebende doch die schönsten Ferien sind. Ein kleines Dickschiff mit einer Kajüte, darin drei kerngesund quengelnde Kinderchen, dazu volle Duschen und Waschräume in den Häfen und alle Fahrräder für die idyllische Umgebung waren vermietet. - Hermann und die Seinen, nennen wir sie aus Datenschutz- und literarischen Gründen Dorothea, fanden nun ein Plätzchen in einem Hafen auf Aero. Zwischen Segelclubhaus und meterhoher dichter Hecke legte Hermann sein neues, dickes Frottee-Handtuch (Dorothea hatte es ihm geschenkt und Hermann stand auch darauf) fürsorglich auf die Erde, damit Dorothea sich nicht pieke. Denn die Gegend nicht nur um Aero, sondern überhaupt die skandinavische Landschaftsstruktur lebt von Disteln. „Ja und...?" fragte Alexander „Und dein Auge...?" Ja eben, antwortete Hermann ihm, ,,das Handtuch habe ich ja an- schließend in der Dusche benutzt und dabei in der Eile - die Dusche ist immer rappelvoll - eine restliche Distel in mein Gesicht und auf die Hornhaut gerieben..." Das - fand Alexander, der sich mit Wirkungsforschung beschäftigt - sei in der Tat eine buchstäbliche Form der Liebe, die mit Blindheit schlägt.

1.August 1995